Aus Spass wird Ernst – Ein Jude als Staatspräsident


Wahlsieger Wolodymyr Selenskyj und seine Frau Olena Selenska gratulieren sich gegenseitig.

Die jüdische Öffentlichkeit in aller Welt hat sich am Montag über gute Nachrichten gefreut. Zu Recht, denn die Ukraine wird bald neben Israel das einzige Land der Welt mit einem jüdischen Präsidenten und einem jüdischen Premierminister sein.

Von außen betrachtet ist das, vorsichtig ausgedrückt, erstaunlich. Schliesslich hört man seit Jahren vom Erstarken nationalistischer Kräfte in der Ukraine, Neonazis können sich ungehindert in den Strukturen und Streitkräften des Innenministeriums betätigen, und in der Geschichtspolitik werden Nazikollaborateure und Nationalisten verehrt, auch solche, die sich an ethnischen Säuberungen beteiligten.

Der Komiker Wolodymyr Selenskyj wird mit seinen 41 Jahren nicht nur der jüngste Präsident der Ukraine. Der prowestlich eingestellte Fernsehstar ist auch der erste Ukrainer, der ohne politische Erfahrung ins höchste Staatsamt kommt. In der Rolle eines Geschichtslehrers, der überraschend Präsident wird, hat Selenskyj es landesweit zu Ruhm gebracht.

»Diener des Volkes« (»Sluha Narodu«) heisst die extrem populäre Serie mit Schmonzetten über das Präsidentenamt. Unbeholfen, aber mit Humor regiert da der grundanständige Bürger Wassili Goloborodko. Eine Parodie auf das Chaos der Ukraine. Aus Spass wird nun voller Ernst.

Spätestens diese Wahl sollte unsere Wahrnehmung der Ukraine in einem Punkt korrigieren. Allen unangenehmen Nachrichten zum Trotz ist das Land nicht das grosse Sorgenkind Europas, wenn es um Antisemitismus und Xenophobie geht. Die letzten Präsidentschaftswahlen in Frankreich, die regierenden Koalitionen in Österreich und Italien oder die meisten Nachrichten aus Ungarn dürften das ausreichend deutlich machen.

Anders als viele europäische Wähler liessen sich die Ukrainer jedoch nicht von identitären Ängsten leiten, sondern setzten gegen die alles durchdringende Korruption, frappierende soziale Ungleichheit und Verantwortungslosigkeit der politischen (und damit auch wirtschaftlichen) Eliten ein deutliches Zeichen.

Mit einer nach der Sendung benannten Partei und einem nebulösen Programm mit dem Namen »Land der Träume« will der studierte Jurist nun die Ukraine aus ihrer Dauerkrise führen. Doch was genau der »Clown aus Krywyj Rih« (in der Südukraine), wie er sich selbst nennt, jetzt vorhat und wie er die grosse Armut in dem Land bekämpfen will, bleibt abzuwarten.

Vor allem seine Kritiker haben den Künstler, der nur eine Amtszeit von fünf Jahren bleiben will, immer wieder als eine »Katze im Sack« bezeichnet. EU, USA und Nato jedoch sehen in dem Nachfolger des nun abgewählten Präsidenten Petro Poroschenko einen neuen Hoffnungsträger für Reformen in der Ex‐Sowjetrepublik.

In Bezug auf den Konflikt im Donbass will Selenskyj an den Friedensgesprächen mit Beteiligung Deutschlands, Frankreichs und Russlands festhalten. Und er kann sich vorstellen, etwa auch die USA und andere zu beteiligen. Die Herzen der Menschen in den abtrünnigen Regionen Luhansk und Donezk will er gewinnen, indem er Senioren dort ukrainische Renten auszahlt. Er will auch ein russischsprachiges Fernsehen, das der Moskauer Propaganda etwas entgegensetzt.

Russland sieht er als Nachbarn, mit dem er reden will. Vor allem die Freiheit für die in der Ukraine verbreitete russische Sprache hat Selenskyj immer wieder verteidigt. Und er sprach sich für ein Ende der Einreiseverbote von Künstlern des Nachbarlandes aus. Er kann sich im Dialog mit Moskau auch Kompromisse vorstellen.

In einem Land, dessen jüdische Bevölkerung in einigen der grausamsten antisemitischen Pogrome der Welt in den letzten hundert Jahren (von 870.000 auf 17.000 allein im Zweiten Weltkrieg reduziert) dezimiert wurde, ist Vladimir Grossman der jüdische Premierminister, der auf sein Judentum ebenso offen stolz ist wie auf den neuen jüdischen Präsidenten. Mit Spannung wird darauf gewartet zu sehen, wie der fiktive TV-Präsident, der jetzt der eigentliche Führer dieser wichtigen postkommunistischen Nation ist, mit seinem jüdischen Erbe umgehen und seine Unterstützung für Israel zeigen wird.

Mit der Wahl von Selenskyj bewies die Ukraine, dass Protestwahlen keine Erfolge Rechtsradikaler bedeuten müssen. Und seien wir ehrlich: Wünschen wir uns nicht auch für die anderen Staaten in Europa, dass Protestwahlen nicht im Erstarken von Rechtsradikalen münden?

(Andreas Stein, Ulf Mauder, Dimitri Tolkatsch, David Lazarus, Chaim Stolz / Bildrechte: dpa)



Kategorien:Gesellschaft

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1 Antwort

  1. Er ist Präsident der Ukraine und Ukrainer.
    Das ist das einzige Land dem er verpflichtet sein muss, Obama hat schließlich auch nichts für Kenia getan, obwohl es da nicht nur eine religiöse sondern ethnische Verbindung gab.

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