Keine Grenzen, keine Heimat


Olga Grjasnowas Debütroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ reist von Baku über Deutschland nach Israel / Lesung in Freiburg.

„1996 waren wir in Deutschland. 1997 dachte ich zum ersten Mal über Selbstmord nach.“ Das Drama verlorener Heimat, zerschellter Kindheit, erzwungener Integration in zwei simplen Aussagesätzen, deren Lakonie allenfalls ahnen lässt, dass hier von einem Schicksal die Rede ist. Olga Grjasnowa, 1984 in Baku (Aserbaidschan) geboren, ist wie ihre Protagonistin Mascha als Kontingentflüchtling mit elf Jahren nach Deutschland gekommen. Man wird sich Mascha als Projektionsfigur der Autorin vorstellen dürfen; Grjasnowas bemerkenswertes Romandebüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (der Titel nimmt ein Motto aus Tschechows „Drei Schwestern“ auf) baut erkennbar auf autobiographischen Materialien auf, ist ein Versuch, den Rohstoff der eigenen Biographie in Sprache zu verwandeln.

Maschas Grossmutter ist Holocaust-Überlebende, Maschas Eltern finden die Vorstellung, ausgerechnet nach Deutschland zu fliehen, „absurd“: „Noch 1994 sagte meine Mutter, sie würde niemals dieses Land betreten, dort sei die Asche noch warm.“ Unter dem Druck der Verhältnisse, als der Konflikt um Bergkarabach zum offenen Krieg eskaliert – „Der Hass war nichts Persönliches, er war strukturell“ – , als auch das Kindheitsland Aserbaidschan zum Schlachtfeld zugerichtet und die Zivilbevölkerung immer erbarmungsloser geschunden wird, kehrt Mascha mit ihren Eltern Baku notgedrungen den Rücken. Endhaltestelle Friedberg, eine freudlose Kindheit zwischen Ausländeramt, „Aldiklamotten“, nagender Scham und latentem Rassismus; Mascha lebt in Frankfurt, studiert Dolmetscherwissenschaften, nicht aus Passion, sondern als ein Akt von Notwehr: „Ich begleitete meine Eltern auf das Ausländeramt und lernte dort, dass Sprachen Macht bedeuteten.“

Olga Grjasnowa fächert die Existenz ihrer Protagonistin in einen souverän komponierten Reigen kurzer Prosasequenzen auf, eine Choreographie der Figuren, ein Textfilm mit harten und weichen Schnitten, mit Zooms und Totalen, Rückblenden und Doppelbelichtungen. Ein Debüt, dessen sprachlicher Reichtum, dessen Präzision und Atmosphäre, dessen Welthaltigkeit und lakonische Komik staunen lassen – eine Autorin, die über eine nuancenreiche, in ihrer Poesie und nicht zuletzt in ihrer Trauer unbestechliche Sprache verfügt, hart, klar, atemlos, oft von schnoddriger Zärtlichkeit. Umso ärgerlicher ist es, dass das Lektorat gerade diese Autorin nicht vor Stilblüten, schiefen Bildern, verrutschten Metaphern und falschen Adjektiven bewahrt hat. Was fängt man an mit Sätzen wie diesen: „Ihre Augen loderten fundamentalistisch“, „Im Morgengrauen liebten wir uns zum Geschrei von Betrunkenen, das wir mit aristokratischer Ruhe ignorierten“, „Cem roch nach gutem Willen und teurem Eau de Cologne“ oder: „Häuser und Menschen fingen an, wie nicht fertig gebackene Kastenbrote auszusehen“?

Aus einer Sportverletzung wird eine schwärende Wunde, die ein schmerzhaftes Sterben besiegelt – hier wird etwas melodramatisch aufgeschäumt, was zur trockenen Lakonie des Romans in merkwürdigem Gegensatz steht: Nach dem Tod ihres Freundes Elias geht Mascha mit einem Stipendium nach Israel. Ihrer jüdischen Identität mehr und mehr gewahr, gerät sie zwischen die ideologischen Frontlinien des Nahostkonflikts. Ihre Panikattacken sind körperliche Symptome für einen unaufhaltsamen psychischen Zerfall – eine flackernde Bilderfolge der Angst, der Ratlosigkeit, der Verzweiflung, der Vereinsamung. Fern von ihren Freunden Sami und Cem, Identitätsnomaden wie sie, kommt Mascha sich selbst abhanden; ihre Realität wird immer brüchiger, , durchlässig für jenes Kindheitstrauma, das den Unruheherd dieser nervös vibrierenden Prosa bildet.

„Ich versuchte die Leere in mir mit Vokabeln zu füllen“: Mascha findet weder Halt in den ihr fremden Sprachen, obschon sie fünf Fremdsprachen fliessend beherrscht, noch in einem Zuhause, das sie Heimat nennen könnte: „der Begriff Heimat implizierte für mich stets den Pogrom“. Man sollte sich hüten, diesen Roman als „Migrantenliteratur“ zu etikettieren. Seine wahre Dimension zielt auf existentielle Probleme, er fragt nach den Bedingungen und den Elementen von Identität wie Herkunft, zumal nach den Facetten jüdischer Identität in einer globalisierten Welt. Olga Grjasnowa ist eine beachtliche Talentprobe gelungen, womöglich ein Versprechen für die Zukunft.

Video: Olga Grjasnowa spricht mit Oliver Preusche über ihr Buch „Der Russe ist einer, der Birken liebt“.


– Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2012. 285 Seiten, 18,90 Euro. Lesung: Die Autorin liest im Rahmen der Jüdischen Kulturtage Freiburg am 29. Oktober um 20 Uhr in der Stadtbibliothek Freiburg. Es moderiert die Leiterin der Stadtbibliothek Elisabeth Willnat.



Kategorien:Kultur

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