Breite Unzufriedenheit über die Selbstherrlichkeit der Superreichen

Israeli protestieren gegen die hohen Lebenshaltungskosten. (Bild: Key/epa)
Die israelische Mittelklasse protestiert gegen ihre Marginalisierung. Nachdem sie jahrelang geschwiegen hat und Siedler und orthodoxe Religiöse finanziell profitiert haben, ist sie sich ihrer Macht bewusst geworden.
Hunderte von kleinen Zelten stehen auf dem begrünten Mittelstreifen des Rothschild Boulevard in Tel Aviv. Seit einem Monat protestiert hier an der ersten Adresse der Stadt Israels unzufriedene Mittelklasse. Tagsüber stehen viele Zelte leer, denn ihre Bewohner gehen ihrer Arbeit nach. Erst am Nachmittag beginnt sich die achattige Allee zu bevölkern. Vornehmlich junge Leute, erfreut über den Erfolg ihres Protests, bilden Diskussionsgruppen, Musikanten haben sich niedergelassen, und Eltern flanieren mit ihren Kindern den Boulevard entlang. Es sind weder Arbeitslose, Obdachlose noch Randexistenzen, die hier demonstrieren, sondern Studenten, Lehrer, junge Ingenieure, Bankangestellte, Beamte und andere Fachleute. Auf Transparenten beschreiben sie mit einigem Humor ihre Schwierigkeiten. Möglicherweise von der Atmosphäre des «arabischen Frühlings» erfasst, erkannten sie ihre Unzufriedenheit.
Ein altes Malaise
Die Proteste, die mittlerweile das ganze Land erfasst haben, drücken ein altes Malaise aus, das stets verdrängt wurde. In den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung war Israel ein sozialistisch orientierter Wohlfahrtsstaat. Die Gesellschaft funktionierte wie ein Kibbuz, jeder leistete, so viel er konnte.
Und der ordnende Staat (lange identisch mit der Arbeitspartei) verteilte die Ressourcen und die Einnahmen des Landes. Die Bevölkerung hatte fast blindesVertrauen in die Behörden. All dies hat sich in den vergangenen 15 Jahren geändert. Insbesondere seit Netanyahus Einzug in die Politik wurde die freie Marktwirtschaft propagiert. Staatliche Firmen wurden reihenweise privatisiert, was zur Folge hatte, dass die vorherigen «Superreichen» − etwa zwei Dutzend Familien, die im israelischen Sprachgebrauch Tycoons genannt werden −, noch reicher wurden. Nur sie konnten sich den Kauf der zu privatisierenden Konglomerate leisten und hatten die dazu nötigen Beziehungen.
Kartelle entstanden, und die Preise für viele Waren stiegen. Gleichzeitig wurde die Besteuerung der wohlhabenderen Schichten reduziert. Die Meinung war, dass die Wohlhabenden die Wirtschaft tragen und mehr Arbeitsplätze schaffen würden, wenn sie tiefer besteuert würden. Um die dadurch entstandenen Verluste an Steuereinnahmen wettzumachen, wurden indirekte Steuern wie Mehrwertsteuer, Importsteuer, Kaufsteuer, Energiesteuer erhoben. Diese indirekten Steuern sind nicht progressiv, Arme und Reiche bezahlen gleich viel. Am meisten leidet die Mittelklasse unter dieser Besteuerung, die auch auf bescheidenen Luxusgütern erhoben wird.
Verlust der Ideale
Aber das Problem liegt tiefer als bloss bei den hohen Preisen für Nahrungsmittel, Benzin und Wohnungen. Das Volk hat seine Zielsetzungen und Ideale verloren. In den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung wusste jedermann, warum er in dem Land lebt, wofür er arbeitet. Zionismus, der Aufbau einer Heimstätte für das jüdische Volk und die Verteidigung vor äusseren Feinden waren die Raison d’être, die allen jüdischen Bürgern gemeinsam war. Jedermann nahm allfällige Schwierigkeiten willig auf sich, man übte gegenseitige Solidarität. Dies hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten grundlegend geändert. Die Bedrohung von aussen ist gesunken, es besteht keine existenzielle Gefahr mehr.
Israel ist zu einem Staat wie viele andere geworden. Und die Bevölkerung denkt vor allem an ihren Wohlstand. Dabei hat sich das Volk aber gespalten. Siedler, Orthodoxe und Superreiche haben ihre eigenen Wertsysteme, die nichts gemein haben mit den Wünschen und Träumen der Mittelklasse. Diese Gruppen konnten ihre Wünsche meist durchsetzen. Siedler und Ultraorthodoxe haben ihre Interessenvertreter in der Knesset und drohen jeweils mit Koalitionskrisen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Die Superreichen wiederum lassen ihre Lobbyisten auf die Regierung und das Parlament Einfluss nehmen.
Dabei ist die Mittelklasse ins Hintertreffen geraten. Ihre Vertreter verbrachten ihr Leben mit Arbeit, Militärdienst und Steuernzahlen. Als Ideal galt, sich hochzuarbeiten, um eine bürgerliche Mittelklasse-Existenz zu führen. Für Demonstrationen blieb keine Zeit. Bis vor kurzem gehörte es auch zum guten Ton, dass sich die Mittelklasse nicht beklagte, denn es gibt ja so viele wirklich arme Leute in Israel. Verglichen mit jenen, die sich kaum Lebensmittel leisten können, empfanden sich Angehörige des Mittelstands als privilegiert. Ihre Vertreter schämten sich, über ihr Los zu klagen. Die Folge war, dass die Anliegen der schweigenden Mittelklasse von der Politik ignoriert wurden. Währenddessen gingen Milliardensummen in die besetzten Gebiete und in orthodoxe religiöse Institutionen. Gleichzeitig wurden die Kartelle der Superreichen immer stärker und sicherten ein hohes Preisniveau.
Wehe, wenn sie aufgeweckt
Nun ist die Mittelklasse aufgewacht. Bürger aller politischen Richtungen können sich mit den Protesten identifizieren, die nichts mit dem Landstreit um Palästina zu tun haben. Für die Regierung bedeutet dies eine ernste Prüfung. Solange Krieg und Terror drohten, konnte das Volk bei der Stange gehalten werden. Heutzutage aber lässt sich die Bevölkerung nicht einmal mehr mit dem Drohmittel des iranischen Atompotenzials disziplinieren. Wie in den umliegenden arabischen Nachbarländern wurden sich die mittelständischen Bürger plötzlich bewusst, dass die Regierung nicht ihre Interessen vertritt.
Nach den Massendemonstrationen, einem Ventil zum Ablassen von Verdruss und Frustration, tritt die Manifestation der Unzufriedenheit nun in eine zweite Phase. In ihr genügt es nicht, die Regierungspolitik in Rundumschlägen zu kritisieren. Es müssen Manifeste aufgesetzt und konstruktive Vorschläge für die Lösung der Probleme formuliert werden. Bisher hatten die Anführer der Proteste keine Parolen gegen die Besetzung Cisjordaniens oder gegen die institutionalisierte Arbeitslosigkeit der orthodoxen Religiösen zugelassen, um den Demonstrationen keinen politischen Anstrich zu geben. Aber nun muss Farbe bekannt werden. Die Milliardensummen, die jährlich von Siedlungen und religiösen Institutionen verschlungen werden, können nicht länger ausgeklammert bleiben.
Fachleute weisen auf die eigentlich selbstverständliche Tatsache hin, dass sich das Land die immensen Kosten dieser Extravaganzen nicht leisten kann. Das simplifizierende Argument, dass bloss der Kuchen vergrössert werden müsse, damit genügend Mittel für die Anliegen aller Kreise vorhanden seien, überzeugt nicht mehr. Die Bevölkerung wird sich gewahr, dass nun die Rechnung präsentiert wird für Jahrzehnte unbeschränkter Ausgaben für die besetzten Gebiete und die Religiösen. Auch nationalistische Kreise werden sich dem rgument nicht entziehen können, dass eine Besserstellung der Mittelklasse auf Kosten der Siedler und der Orthodoxen gehen muss. (von George Szpiro, Tel Aviv)
Kategorien:Gesellschaft
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