Was zählt, ist auf dem Brett


Die Schachwelt mäkelt über den anstehenden WM-Kampf zwischen Weltmeister Viswanathan Anand und Boris Gelfand –  zu Unrecht.

© Kirill Kudryavtsev

Boris Gelfand (links) und Viswanathan Anand während der EröffnungszeremonieBoris Gelfand (links) und Viswanathan Anand während der Eröffnungszeremonie

Heute beginnt in Moskau das Schachereignis des Jahres – der Israeli Boris Gelfand gegen den Inder Viswanathan Anand, ein Zweikampf über zwölf Runden um zweieinhalb Millionen Dollar und den Titel des Weltmeisters.

Da treffen nicht die beiden nach Rangliste stärksten Spieler aufeinander, sagen sie. Der Weltmeister Anand habe seit Längerem kein Turnier mehr gewonnen, sein Herausforderer Gelfand gehe auch schon auf die fünfzig zu. „Beide Finalisten haben zuletzt kaum begeisterndes Schach geboten“, konstatierte am Donnerstag die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Stimmt alles – und doch verfehlt es die Wirklichkeit.

Bei der feierlichen Eröffnung der WM in Moskaus Tretjakow-Galerie, einer Schatzkammer der russischen Kunst, herrschte am Donnerstagabend ein Auftrieb und eine Atmosphäre, wie sie im sonst üblichen Turnhallen-Schach nicht anzutreffen ist. Rachmaninow wurde gespielt. Michail Gorbatschow sass in der ersten Reihe. Ex-Weltmeister Anatoli Karpow war da. Hundert Journalisten drängten sich um die Akteure – keinesfalls nur russische Kollegen, sondern auch Inder, Israelis, Australier, Deutsche und Niederländer.

Die Weltmeisterschaft gilt nach wie vor mehr als jedes noch so exzellent besetzte Turnier. Da ist zum einen die Aura der seit 1886 ausgetragenen Duelle um die Krone, Anand ist erst der fünfzehnte Weltmeister in 126 Jahren. Da ist zum anderen die unumstössliche Tatsache, dass sich nur diese beiden bis ins Finale vorgekämpft haben, während andere, vorgeblich bessere Spieler in den Ausscheidungen unterlagen oder ihnen einfach fernblieben.

In diesem Punkt mag Schach dem Fußball ähneln: Grau ist alles Kritteln, was zählt, ist auf dem Platz. Und auf dem Platz, dem Brett, wird es erst an diesem Freitag erste Hinweise auf das Kommende geben. Wird es eine unerwartete Eröffnung geben? Wird es mau oder scharf zugehen? Wird der eine dem anderen standhalten können? Niemand weiss es.

Wochenlang hatten sich die Kombattanten verschanzt und vorbereitet. Anand im Taunus, Gelfand in den Alpen, der Höhenluft wegen. Noch am Vortag des Kampfes auf der Pressekonferenz beantworteten sie alle vorwitzigen Bitten um Geheimnislüftung mit nichtssagenden Floskeln. Sie lächelten, obwohl die Anspannung zu fühlen war.

Mit welchen Beobachtungen liesse sich spekulieren? Anand zeigt weltmeisterliche Müdigkeit, wie sie sein Vorgänger Kramnik zeigte, als er ihn vom Thron stiess. Alle Spitzenspieler wollen Weltmeister werden, aber kaum einer hat eine Ahnung davon, was dann ist. Welches Ziel gäbe es noch? Intelligentes Leben auf anderen Planeten ist bislang nicht entdeckt.

Gelfand hingegen muss höchst motiviert sein. Er hat zwei Jahrzehnte lang ganz oben mitgespielt, dann hat er etwas nachgelassen, aber als sich ihm die vielleicht letzte Chance bot, hat er zugeschlagen und gegen alle Wahrscheinlichkeit alle anderen aus dem Feld geschlagen. Er wird sein allerbestes Schach zeigen und wenn er die Nerven bewahrt, könnte er Anands unangenehmster Gegner werden.

Anand wiederum kennt WM-Kämpfe, seine Siege gegen den Russen Kramnik und seinen vorigen Herausforderer, den Bulgaren Topalow, waren Geniestreiche aus Computervorbereitung und Psychologie. Er mag müde sein. Einfach umzuhauen ist er nicht.

Der Kampf ist offen. Und geringe Erwartungen sind im Schach oft ein guter Nährboden für schöne Überraschungen.



Kategorien:Sport

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