Zeltstadt-Proteste: Der arabische Frühling erreicht Israel


In Tel Aviv und anderen israelischen Städten campieren Bürger auf öffentlichem Grund, um gegen hohe Mieten zu protestieren – dabei ist die Wirtschaftslage so gut wie seit langem nicht mehr. Sechs Monate nachdem eine Zeltstadt auf dem Kairoer Tahrir-Platz zum Symbol der Umwälzungen im Nahen Osten wurde, scheint ein weiteres Land vom Protestvirus infiziert zu sein. In Israel geht es allerdings weniger um Forderungen nach mehr Demokratie, als vielmehr um spezifische Konsumententhemen. Wohnungsknappheit, hohe Mieten sowie die Preise für Benzin – und Hüttenkäse.

Angefangen hatte alles vergangene Woche, als die 25-jährige Daphni Leef über Facebook dazu aufrief, auf dem begrünten Mittelstreifen des eleganten Rothschild Boulevards in Tel Aviv zu campieren. Eine heterogene Gruppe aus Arbeitslosen, Künstlern und Working-Poors folgte. Die Zeltstadt wird seither täglich von Schaulustigen und Sympathisanten besucht. Inzwischen sind auch andere Städte wie Jerusalem und Beer Scheva betroffen.

Politik und Wirtschaft haben bereits reagiert. Der Preis für Hüttenkäse, ein Grundnahrungsmittel in Israel, ist um 25 Prozent gefallen. Regierung und Parlament haben zudem angekündigt, den staatlichen Wohnungsbau zu forcieren, administrative Hürden abzubauen sowie finanzielle Anreize für Hauseigentümer zu schaffen, damit diese verkaufen.

Neben den materiellen Anliegen sind gewisse politische Untertöne unüberhörbar. «Religiöse Juden denken immer, wir wären wie ein Licht für andere Nationen und dass andere von uns lernen könnten. Diesmal haben wir von den Ländern um uns herum gelernt, dass Menschen Dinge verändern können», sagte der 35-jährige Moshe Gant der «New York Times», als er das Zeltlager besuchte. Auch Eldad Yaniv konnte den Protesten eine neue Qualität abgewinnen: «Zum ersten Mal kämpfen wir nicht gegen die Araber, sondern für etwas – unser Leben und das unserer Kinder», sagte der langjährige Linksaktivist.

Die Unzufriedenheit bekamen einige Politiker am eigenen Leib zu spüren. Als der Bürgermeister von Tel Aviv zu Beginn der Proteste das Gespräch mit den Zeltlern suchte, wurde er wiederholt unterbrochen. Als ihn jemand mit Bier übergoss, ging er wieder, berichtet die israelische Zeitung «Haaretz». Die konservative Abgeordnete Miri Regev bezeichnete die Protestierenden als «dumm» und «linke Extremisten», nachdem sie von ihnen ausgepfiffen worden war.

Für Finanzminister Yuval Steinitz müssen die Proteste seltsam anmuten, denn Israels Wirtschaftslage präsentiert sich so gut wie nie zuvor. Die Arbeitslosenquote beträgt 5,8 Prozent, bedeutend weniger als in vielen europäischen Ländern. Die Landeswährung Schekel ist stark und die Handelsbilanz positiv. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf beträgt31 000Dollar, vergleichbar mit Spanien und Italien.

Avi Simhon, Ökonom an der Hebräischen Universität Jerusalem, vermutet, dass es zwischen der Unzufriedenheit und den guten Wirtschaftszahlen durchaus einen Zusammenhang gibt. «Wenn wir neun Prozent Arbeitslose hätten, würden sich die Menschen keine Sorgen um den Preis von Hüttenkäse machen», sagte er gegenüber der «New York Times».



Kategorien:Gesellschaft

1 Antwort

  1. Auch Unter den Linden macht sich eine solche Zeltstadt gut.

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