
Rosch Haschana erinnert an das Bündnis zwischen Gott und Abraham. Die Erinnerung an diesen Anfang ermahnt den Menschen daran, sich selbst zu überdenken.
Am ersten Tag von Rosch Haschana beginnt die Thora-Vorlesung mit der von unserem Stammvater Abraham und seiner Frau Sara so sehnlich erwarteten Geburt des Sohnes Itzchak. Dieses gemäss der Überlieferung auf das Kalenderdatum des erstes Tages von Rosch Haschana eingetroffene Ereignis ist der Glücksmoment eines Paares und bildet zugleich das Scharnier für den Bestand des Judentums. Der Thora-Abschnitt belässt es bei einer nüchternen Beschreibung, um sich rasch Realitäten des Familienlebens und Umständen zu widmen, die einer Lösung bedürfen. Die notwendige Trennung Abrahams von seinem geliebten Sohn Ismael und von dessen Mutter Hagar ist so einfühlsam wie unsentimental geschildert und bildet in aktueller Rückschau die Verbindung zur Entstehung des Islam.
Abgerundet wird jenes 21. Kapitel der Genesis durch die Schilderung des Friedensvertrages zwischen Abraham und dem Philisterkönig Abimelech. Was aber hat diese Erzählung mit dem Tag des Gedenkens, mit Rosch Haschana, zu tun?
Vom chassidischen Rabbi Simcha Bunam wird berichtet, wie er eines Tages zwei jüdische Handwerker diskutieren hört. Fragt der eine: «Hast du schon die Sidra gelernt?» «Ja», sagt der andere, «den Abschnitt habe ich gelesen, doch ein Satz bleibt mir unverständlich. Es heisst da nämlich von Abraham und dem Philisterkönig: Sie schlossen, die zwei, einen Bund. Der Ausdruck ‹die zwei› ist doch überflüssig?» «Das ist wirklich eine gute Frage», bemerkt sein Gesprächspartner. «Ich erkläre es mir so: Einen Bund haben sie zwar geschlossen, aber eins sind sie nicht geworden; sie blieben auch weiterhin entzweit.» Diese Deutung beeindruckte Rabbi Bunam derart, dass er sie zu Rosch Haschana weiterzugeben pflegte.
Ja, einen Bund haben sie geschlossen, aber eins sind sie nicht geworden. Wie viele Bündnisse werden geschlossen, wie viele Verträge unterzeichnet, ohne eins zu werden, ohne etwas bleibend Aufbauendes zu schaffen? Die Quellen des Judentums schildern ihre tragenden Gestalten keineswegs als fehlerlos oder frei von tragischem Scheitern, doch eben deshalb wird uns deren wahre menschliche Grösse als Ansporn und Trost vermittelt. Von welcher beschränkten Dauer das Bündnis Abrahams mit den Philistern sein sollte, zeigt die Schrift dann später auf, indem nach viel versprechenden Anfängen einer scheinbar ungetrübten Koexistenz Abrahams Sohn Itzchak durch sein wachsendes Vermögen immer mehr Neid erweckt, bis er schliesslich von demselben Philisterkönig, der mit seinem Vater Abraham verhandelt hatte, zuerst vertrieben und danach zu Neuverhandlungen gedrängt wird.
Verpflichtender Bund
Anhand der Realität solcher weltlicher Vereinbarungen sollen wir uns an Rosch Haschana eine andere Art von Bündnis vergegenwärtigen. Es handelt sich um den Bund, «brit», den Abraham mit Gott geschlossen hat. Am Jom Hasikaron rufen wir Gott an, dieses Bundes zu gedenken. Daher mündet an Rosch Haschana das Mussafgebet bei den «sichronot» in den Segensspruch: «Gepriesen seist du, Ewiger, der sich an den Bund erinnert.» Aber besitzen wir das Recht, Gott an seine Verpflichtungen zu erinnern, bevor wir uns im Klaren darüber sind, dass dieser Bund auch für uns verpflichtend ist? Ist unser Gang zu den hohen Feiertagen in die Synagogen ein genügender Beweis, dass wir glaubwürdige Bündnispartner sind?
Seit dem Bund Abrahams sind die Generationen des Judentums über Jahrtausende hindurch miteinander verbunden geblieben, indem sie diesen Bund als lebensbestimmend anerkannten. Viele von uns erkennen diese Lebensbestimmung nicht mehr. Der Bund von einst scheint zu entfernt vom Alltag von heute, selbst wenn den Ritualen der Anlässe von Freude und Trauer, bei Geburt, Hochzeit oder Tod, noch Tribut gezollt wird. Woran liegt es? Auch diese Frage ist nicht neu. Schon König David klagt über seine Zeitgenossen, denen Gott unwirklich und bedeutungslos geworden sei: «Denn sie ändern sich nicht und haben deshalb keine Ehrfurcht vor Gott» (Ps. 55:20). Der Psalmist ruft uns zu, dass es die seelische und geistige Erstarrung ist, mit der die Ehrfurcht vor Gott aus unserem Leben schwindet, eine Erstarrung, die uns als Bündnispartner unbrauchbar macht.
Die jüdische Antwort auf die Gefahr des Versinkens im Morast der Gleichgültigkeit ist die Thora, die im Mittelpunkt des Gottesdienstes steht. Ein Dienst, der das Leben umfasst. Die beiden bodenständigen Handwerker, deren Dialog uns Rabbi Bunam überliefert hat, können Vorbild sein in der kreativen geistigen Auseinandersetzung mit den Grundlagen unserer Tradition. Die Thora macht uns zu verlässlichen Bündnispartnern, indem wir unser Denken und Fühlen klären und stärken, um danach zu handeln. Das Judentum ist eine Religion, welche die Pflicht betont, die Mizwa in den Mittelpunkt stellt. Bündnispartner belassen es nicht bei Absichtserklärungen oder Bekenntnissen, sondern halten konkrete Verpflichtungen und ethische Grundsätze ein.
Beständigkeit des Wandels
Religion als Bündnis, als Bindung zu Gott, ist eine besondere Art von höchstpersönlicher Beziehung. Zu Rosch Haschana sind wir alle aufgefordert, unsere Beziehungsarbeit zu überdenken und neu anzugehen. Eine echte Beziehung verlangt Eigeninitiative und Aktivität. «Mache dich bereit für die Begegnung mit deinem Gott, Israel», lautet entsprechend die Ermahnung des ersten Schriftpropheten (Amos 4:12), und: «Suchet den Ewigen, auf das ihr lebet» (Amos 5:6).
Der Schofarklang zu Rosch Haschana ist das Signal, uns bereitzumachen für die Umkehr zum Leben. Dieser Prozess der Umkehr beginnt mit Fragen, die oft dieselben bleiben, was uns aber nicht davon abbringen sollte, nach den passenden Antworten zu suchen. Beständigkeit zum Wandel sowie Wandel zur Beständigkeit, damit möchte ich an den Titel der Festschrift der jüdischen Gemeinde St. Gallen zu ihrem 150-jährigen Bestehen anknüpfen. Beständigkeit im persönlichen Wandel ist das Thema von Rosch Haschana, das uns alle angeht. Möge es gelingen, durch Selbstfindung unseren Beitrag zu leisten für ein gesegnetes neues Jahr. (Rabbiner Hermann I. Schmelzer, [TA])
Kategorien:Gesellschaft
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