In einem neuen Buch stellt der Psychotherapeut Gary Greenberg die Grundlagen seiner Branche in Frage.Was ist normal und welche Verhaltensbilder und Gemütszustände sind als geistige Störungen zu betrachten? In den USA finden Ärzte, Krankenkassen und der Gesetzgeber darauf seit 60 Jahren Antworten in dem Handbuch «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM), das von der Branchenvereinigung American Psychiatric Association herausgegeben wird.
Das DSM gilt als «Bibel der Psychiatrie». Darin werden Krankheitsbilder definiert, die als Grundlage ärztlicher Diagnosen und der anschliessenden Behandlung und Medikamentierung dienen. Gestützt auf das kanonische Werk, bezahlen Krankenkassen für diese Behandlungen und verwenden dafür häufig auch Gelder aus verschiedenen, staatlichen Töpfen. Wer sein mentales Leiden nicht im DSM identifizieren kann, hat in den USA daher meist keine Aussichten auf eine Anerkennung in Form von Versicherungszahlungen oder staatlichen Hilfen. Zudem dient das DSM zu der Bewilligung staatlicher und privater Forschungsgelder.
Doch unfehlbar ist diese Bibel nicht. Nach der ersten Auflage im Jahr 1952 wuchsen die dritte und vierte Version des DSM auf knapp tausend Seiten an. Das DSM durchlief dabei enorme Wandlungen: Neue Krankheiten wie das «Asperger´s Syndrom» tauchten auf, während Homosexualität als mentales Problem 1974 aus dem DSM gestrichen wurde.
Da so viel von den Richtlinien des Manuals abhängt, verstrichen zwischen den Auflagen immer längere Zeiträume. Ärzte, Pharma-Konzerne und Patientengruppen setzen die Redaktoren heftig unter Druck, um ihre Interessen zu schützen. So zog sich die Vorbereitung von «DSM-5», der vergangene Woche erschienenen, fünften Auflage, über ein Dutzend Jahre hin.
Doch die Probleme des DSM hören damit nicht auf. Im Gegenteil. Zeitgleich erschien jetzt «The Book of Woe: The DSM and the Unmaking of Psychiatry», in dem der Psychotherapeut Gary Greenberg dem 992-Seiten-Werk eine herbe Diagnose stellt.
Greenberg wurde durch seine Studie «Manufacturing Depression» bekannt. Darin beschrieb er die Prägung des medizinischen Depressions-Begriff, der heute Grundlage einer Industrie von Medizinern und Pharma-Herstellern mit einem Jahresumsatz von zehn Milliarden Dollar allein in den USA geworden ist. In «The Book of Woe» geht Greenberg ähnlich vor.
Anhand zahlreicher Interviews mit Experten und ehemaligen DSM-Redaktoren beschreibt er die Erstellung von DSM-5 als schlampigen, von Kompromissen zwischen verschiedenen Interessen und mitunter willkürlichen Entscheidungen geprägten Vorgang. So wurden in den USA zwar seit 1994 (dem Erscheinungsjahr von DSM-IV) bis zu zwei Millionen Bürger mit Asperger´s Syndrom diagnostiziert. Aber in der Neuauflage fehlt diese Krankheit, während gewisse Symptome nun dem Autismus zugerechnet werden.
Am Ende seines Buches, das bereits grosse Wellen in den USA schlägt, kommt Greenberg zu einem ernüchternden Befund: Obwohl sie ein wissenschaftliches Vokabular gebrauchen, «scheinen Psychiater nicht in der Lage zu sein, wirklich zwischen Krankheit und Gesundheit zu unterscheiden». [AM, JNS, MIA]
Kategorien:Wissenschaft
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