König David sagte einst: „Lass uns fallen in des Ewigen Hand, denn gross ist Seine Barmherzigkeit. Doch in die Hand des Menschen möchte ich nicht fallen!“
Thora-Parascha
Sidra: Schabbat Chason – „Dewarim“
Lesungen: 5. Mose 1,1 – 3,22
Haftara: Jesaja 1, 1-27
Dewarim-Psalm 137
Zeit der TränenDer Wochenabschnitt Dewarim wird immer am Schabbat vor dem Jahrestag der Zerstörung des Tempels zu Jerusalem (Tischa beAw) vorgelesen. Dass Tischa beAw in den nächsten Tagen zu begehen ist, wird bei der Tora-Lesung subtil angedeutet: Ein Vers (Dewarim 1, 12) wird in der Trauermelodie gelesen, in der man dann die Klagelieder am Trauertag rezitieren wird. Der Tora-Vers fängt mit dem hebräischen Wort „Echa“ (= wie) an, und das erste Wort der Klagelieder lautet ebenfalls „Echa“. Da Psalm 137 Auswirkungen der Tempelzerstörung schildert, liegt es auf der Hand, warum gerade dieses Kapitel dem Wochenabschnitt Dewarim zugeordnet worden ist.
Vielleicht hat nicht nur der Bezug zum Trauertag Tischa beAw die Wahl von Psalm 137 determiniert. Dem sorgfältigen Leser fällt ein gemeinsamer Punkt auf: In beiden Texten ist von Juden die Rede, die Tränen vergossen haben. Der erste Vers des Psalms lautet: „An den Flüssen Babels – dort sassen wir und weinten, da wir Zions gedachten“. Die ins babylonische Exil deportierten Juden haben dort geweint. Rabbi Ovadja Sforno verweist in seinem Kommentar zu diesem Vers auf eine Talmudstelle (Baba Metziah 59 a), in der es heisst: Die Pforten der Tränen wurden nach der Tempelzerstörung nicht zugemacht. Demnach sind Tränen wesentlich wirksamer als das übliche Gebet.
Im Wochenabschnitt lesen wir: „Gott aber sagte zu mir: Sage ihnen, steiget nicht hinan und kämpfet nicht, denn Ich bin nicht in eurer Mitte, damit ihr nicht von euren Feinden geschlagen werdet. Ich sprach dies zu euch, ihr aber hörtet nicht, waret dem Ausspruche Gottes zuwider, erdreistetet euch und stiegt das Gebirge hinan. Da zog der Emorite, welcher auf diesem Gebirge wohnt, euch entgegen, und sie verfolgten euch, wie die Bienen tun und sie schlugen euch bis zur Zermalmung in Seir bis Chorma. Ihr kehrtet zurück und weintet vor Gott, Gott aber hörte nicht auf eure Stimme und neigte sein Ohr nicht euch zu“ (Dewarim 1, 42 – 45). Die Frage drängt sich auf: Warum blieben die Tränen hier wirkungslos? Rabbiner Hertz erklärt: „Weil ihr Weinen nicht der Bekümmernis ihrer Sünde entsprang, sondern der Trauer über die Folgen dieser Sünde.“ (Von: Prof. Dr. Yizhak Ahren)
Sidra Dewarim, Schabbat Chason – 9. Aw 5779
Arroganter Kriegsbericht
An diesem Schabbat gibt es eine Überquerung der Wochengrenze. An Moza’e Schabbat fängt Tischa beAw (9. Tag des Monats Aw) an. Traditionell wurden an diesem Tag der grossen Katastrophen der jüdischen Geschichte gedacht: „An Tischa beAw wurde über unsere Vorväter das Urteil gefällt, dass sie nicht ins Land hineinkommen sollten; es wurde der Tempel zum ersten Mal und zum zweiten Mal zerstört; es wurde Betar eingenommen und die Stadt wurde umgepflügt“ (Mischna Ta’anit 4, 6).
Der Schabbat vor Tischa beAw wird Schabbat Chason genannt. Chason bedeutet Vision und ist dem ersten Wort der aussergewöhnlichen Haftara zu diesem Schabbat entnommen. Der Prophet Jeschaja hat eine Vision über eine sich nähernde Katastrophe: Das Land wird zerstört werden infolge des nicht der Gerechtigkeit gewidmeten Verhaltens des Volkes Israel. Weder Beten noch das Opfern von Tieren können für die Missetaten Versöhnung bringen. Jeschaja schreibt die Schuld für die Katastrophe dem Volk selbst zu.
In der dieswöchigen Sidra Dewarim (gleichnamig wie das fünfte Buch Mose, das wir diese Woche anfangen zu lesen) erinnert Mosche das Volk daran, wie es die Gebiete an der Ostseite des Jordan Flusses für die Stämme Gad, Reuven und den halben Stamm von Menasche, erobert, ihre Bevölkerung ausgerottet und ihre Habe als Kriegsbeute mit sich genommen hatten. Dieser Eroberungsbericht liest sich nicht als eine trockene Auflistung der Geschehnisse, ganz im Gegenteil, die Kriegszüge werden mit überheblichem und jubelndem Ton dargebracht.
Der Zusammenhang von Toratext, Haftara und Tischa beAw vermittelt uns eine gesamthafte Botschaft. Bei den Katastrophen, deren an Tischa beAw gedacht werden, waren wir nicht lediglich Opfer. Die innere Kohäsion und die gegenseitige Solidarität unter dem Volk waren zerfallen. Die Gesellschaft degenerierte, wurde korrupt und die Moral sank auf einen alarmierenden Tiefpunkt. Eine moralisch bröckelnde Gesellschaft ist nicht imstande, sich gegen von aussen kommende Gefahren zu wehren. Das unsittliche Verhalten, verbunden mit der Überheblichkeit über die grossartigen Eroberungen und Schlachtungen, führten – so der Prophet Jeschaja – zum Verlust des Tempels und der Unabhängigkeit.
An Jom Kippur sollten wir uns zur Rechenschaft ziehen über unser persönliches Verhalten. Im gleichen Licht besehen sollten wir uns an Tischa beAw der kollektiven Rechenschaft unserer Taten als Volk widmen. Diese kollektive Rechenschaft soll als ein Spiegel wirken, in dem wir unseren eigenen Anteil an historischen Ereignissen sehen können. Sicher, das jüdische Volk, aber vor allem jüdische Leute, sind seit je her zum Opfer hasserfüllter Politik, Praktik und Propaganda gefallen. Jede Katastrophe, jede verfolgte, unterdrückte und ermordete Person ist eine zu viel und das nachfolgende Leid über Generationen unerträglich. Gleichwohl sind wir als Kollektiv nicht lediglich Opfer des Hasses oder der kaltblütigen Berechnung. Wir haben bestimmt auch Fehler gemacht, gesündigt und uns arrogant gezeigt. Es muss aber zweifelsohne auch gesagt sein, dass weder Fehler, Sünden noch falsches Benehmen Katastrophen wie die Inquisition, Kreuzzüge oder Schoa rechtfertigen.
Schabbat Schalom,
Rabbiner Ruven Bar Ephraim, JLG Zürich
Kategorien:Gesellschaft
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