Berlin-Hype in Israel


Berlin-TLV

Berlin ist für viele junge Israelis zum Sehnsuchtsort geworden: Die deutsche Hauptstadt steht für Kultur, Kunst, Spass und Freiheit. Der Holocaust ist dabei nicht vergessen. Aber die Gegenwart zählt mehr.

„The Place to be – be Berlin“: An der deutschen Hauptstadt kommt in Tel Aviv derzeit kaum einer vorbei. Egal, ob am Habima-Theater, an der Cinemathek, im Hafen von Jaffa oder an der Betonfassade des „Weissen Elefanten“, wie der Busbahnhof genannt wird – überall hängen Plakate, die Israelis auf Veranstaltungen mit dem Fokus Berlin aufmerksam machen. Darunter Theater, Film, Kunst und auch Klubnächte mit Berliner DJs. Gastgeber der „Berlin Dayz“, die noch bis 8. November laufen, ist das Goethe-Institut in Tel Aviv. Ein Mammutprogramm, dessen Vorbereitung ein gutes Jahr gedauert hat, wie Institutsleiterin Heike Friesel sagt. Das grosse Interesse der Israelis kommt für sie nicht überraschend: „Man muss eigentlich nur Berlin draufschreiben, und die Leute wollen es haben.“

Wie Geschwister: Berlin und Tel Aviv

In der Tat scheint in Israel alles hip zu sein, was mit Deutschlands Metropole zu tun hat, besonders unter jungen Leuten. Kaum einer, der keine Freunde oder Verwandte hat, die gerade dort wohnen. Kaum einer, der nicht wenigstens schon einmal da war. Viele sprechen über Berliner Stadtviertel wie Friedrichshain oder Prenzlauer Berg, als seien sie gleich um die Ecke. Rund 18.000 Israelis leben nach offiziellen Angaben derzeit in Berlin – eine Gemeinschaft, die noch wächst. Genau so wie die Zahl der Besuche, die seit letztem Jahr um 23 Prozent gestiegen ist. Nicht nur das, auch das Interesse an der deutschen Sprache nimmt stetig zu. Deutschkurse an beiden Goethe-Instituten in Tel Aviv und Jerusalem sind immer gut gebucht.

dt-kurs_TLV

Anstehen für den Deusch-Kurs

Die Gründe für die Begeisterung sind vielfältig. Berlin und Tel Aviv seien wie Geschwister, heisst es oft. Hier wie dort fühlen sich Freigeister und Kreative zu Hause, es gibt Raum für zündende Geschäftsideen genauso wie für blosse Hirngespinste. Es ist der gleiche Vibe und „die gleiche Dynamik“, beschreibt es etwa Juval, der sich in Tel Avivs angesagtestem Klub „Block“ gerade eine Atempause vom Tanzen gönnt. Dort legt in dieser Nacht unter anderen der Berliner DJ Marcel Dettmann auf – ein Teil der Veranstaltungsreihe, der laut Heike Friesel „zwar nicht besonders originell ist, aber sehr beliebt“. Stimmt, Party machen ist in beiden Städten definitiv eine wichtige Freizeitbeschäftigung.

Berlin bedeutet Freiheit

Man könnte das vorschnell als oberflächlich bezeichnen, aber in Berlin können Israelis eine Last abschütteln, die den Deutschen fremd ist. Viele entfliehen den Erwartungen der israelischen Gesellschaft und der bedrückenden politischen Situation. Lebenswege in Israel sind vorgezeichnet: Schule, Armee, Heirat schon in jungen Jahren und ziemlich schnell auch Kinder. Dazu kommt der von der Religion geprägte Alltag, dem man selbst im säkularen Tel Aviv kaum ausweichen kann. Wer Kritik übt oder unangepasste Ideen hat, tut sich schwer.

habima-theater_TLV

Der Platz des Habima-Theaters in Tel Aviv wird von den Berliner Lichtpiraten illuminiert

Deshalb waren es wohl auch Künstler, die als erste ihren Platz in Berlin gefunden haben. Inzwischen kommen immer mehr Akademiker. „Grossartig an Berlin ist die Freiheit“, sagt etwa Tal Shamia, ein junger Wissenschaftler, der seit 2001 regelmässig in Berlin ist. In Deutschland und speziell in Berlin könne man sich von den israelischen Erwartungen lösen, man habe nichts mit diesen Problemen zu tun. „Man kann sich auf sich selbst konzentrieren. Das macht das Leben viel einfacher.“

Der Holocaust trennt nicht mehr

Viele, die nach Berlin gehen, sind Enkel oder Urenkel von Überlebenden des Holocaust. Dieser war noch in den 90er Jahren der Grund für die Mehrheit der Israelis, niemals einen Fuss auf deutschen Boden zu setzen. Das hat sich geändert. Man sucht die Annäherung an die Vergangenheit mit einem anderen Blickwinkel. Der Holocaust trennt nicht mehr, sondern ist ein Verbindungsglied. „Beide Länder haben mit der Aufarbeitung zu tun. Man versucht sich gegenseitig zu verstehen“, ist Tal Shamias Eindruck. Und: „Die Leute unterscheiden zwischen Geschichte und der Situation heute.“ Er betrachte Berlin so, wie es sei: Eine freie Stadt mit aufgeschlossenen Menschen. Juval geht sogar einen Schritt weiter: „Es ist Zeit, dieses Kapitel zu schliessen.“

berlin-dayz

Auftaktveranstaltung der „Berlin Dayz“

Für Heike Friesel sind diese Reaktionen eine Medaille mit zwei Seiten. Keineswegs solle man etwa Israel auf den Holocaust reduzieren, sagt sie. Andererseits beobachtet die 52-Jährige, die schon einmal in den 90er Jahren Leiterin des Instituts in Tel Aviv war, „dass bei der jungen Generation generell immer weniger fundiertes Wissen um den Holocaust vorhanden ist.“ Es beschränke sich auf Schlagworte.

Letzterer bedienen sich gern auch israelische Politiker. So kritisierte jüngst Finanzminister Jair Lapid Landsleute, „die bereit sind, das einzige Land, das die Juden haben, wegzuwerfen, weil es sich in Berlin gemütlicher leben lässt“. Er erreicht damit das Gegenteil: „Er weiss nicht, wovon er spricht“, sagt etwa Tal Shamia. „Wenn das Land mir nicht das gibt, was ich brauche, dann muss ich hier auch nicht bleiben.“

(Ulrike Schleicher, DW.de / JNS; Bilder: Geothe Institut Tel Aviv)



Kategorien:Gesellschaft

Schlagwörter:,

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..