
Ralph Lewin an der SIG-Delegiertenversammlung am Sonntag in Bern. © Marcel Bieri/Keystone (Bern, 18. Oktober 2020)
Ralph Lewin leitet neu die Dachorganisation der Juden in der Schweiz. In seinem ersten grossen Interview fordert er: Der Bund müsse Antisemitismus-Kommentare im Netz und Holocaustleugnung strenger überwachen.
Es war erstmalig in der Geschichte des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG): Am Sonntag kam es zu einer Kampfwahl ums Präsidium. Bereits am Montag früh gab der neue Präsident Ralph Lewin per Videoschaltung sein erstes grosses Interview. Die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft ist ihm ein grosses Anliegen.
Der SIG sammelt Meldungen zu Übergriffen gegen Juden und zu antisemitischen Vorfällen in der Schweiz. Wie ist die Lage aktuell?
Ralph Lewin: Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es nur selten Sachbeschädigungen oder Angriffe, hingegen aber Beschimpfungen und Verunglimpfungen. Grosse Sorge bereitet uns die Entwicklung in den sozialen Medien. Dort stellen wir eine deutliche Zunahme von Ausfälligkeiten fest. Erstaunlich ist dabei: Das geschieht nicht anonym. Die Leute stehen mit ihren Namen zu den Aussagen.
Was kann man dagegen tun?
Für uns ist sehr erfreulich, dass sich Facebook entschieden hat, Holocaustleugnung nicht mehr zu akzeptieren. Das hilft. In der Schweiz stellt sich die Frage: Ist es wirklich eine rein private Aufgabe, Vorfälle zu erfassen und zu melden? Wir würden uns wünschen, dass der Bund da Unterstützung leistet. Die Entwicklung ist für uns schwer kontrollierbar, wir können alleine nur wenig dagegen tun.
Fühlen Sie sich grundsätzlich sicher in der Schweiz?
Eine neue Studie hat gezeigt, dass rund ein Drittel der Juden es vermeidet, gewisse Anlässe zu besuchen. Dies trifft insbesondere auf Menschen zu, die äusserlich als Juden erkennbar sind. Ungefähr die Hälfte hat bereits selbst antisemitische Vorfälle erlebt.
Das bedeutet: Antisemitische Grundtendenzen existieren auch in der Schweiz.
Antisemitismus ist eine Haltung, die oft verborgen bleibt. Latenter Antisemitismus kann mit der Zeit aber nach aussen getragen werden. Daraus entstehen dann zum Beispiel Beschimpfungen, aber auch Gewalt. Das müssen wir genau beobachten.
Ein anderes Thema ist die Sicherheit jüdischer Institutionen. Tut die öffentliche Hand genug?
Es war ein relativ langes Hin und Her um die Frage, ob die Kantone oder der Bund zuständig sind. Wir waren sehr erstaunt, dass wir vor zwei Jahren noch dazu aufgefordert wurden, selbst für unsere Sicherheit zu zahlen. Nun ist ein grosser Schritt getan: Der Bundesrat stellt 500’000 Franken pro Jahr für bauliche Massnahmen zur Verfügung. Das reicht aber bei weitem nicht, da müssen mehr Massnahmen folgen. Einige Kantone tun sehr viel mehr als andere. Auch da muss mehr getan werden.
Befürchten Sie Übergriffe?
Die Gefahr ist real und die Massnahmen präventiv. Man kann nicht warten, bis etwas passiert. Gerade in unserer jüdischen Gemeinde in Basel fühlen wir uns durch die Grenznähe etwas gefährdeter. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich haben wir Vorfälle gehabt.
Die letzten Zeitzeugen sterben. Wie stellen Sie sicher, dass das Wissen um den Holocaust nicht verblasst?
Es wird mit verschiedenen Massnahmen versucht, die Erinnerung wachzuhalten. So hat man etwa die Erzählungen von Holocaust-Überlebenden aufgezeichnet. Ich bin manchmal schockiert, wie rasch die Gesellschaft vergisst. Es darf nicht sein, dass die Jungen irgendwann sogar den Holocaust nicht mehr präsent haben oder denken, so etwas könne nicht mehr passieren.
Katholiken und Reformierte kämpfen mit einem Mitgliederschwund. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Insgesamt ist die Zahl der jüdischen Mitbürger stabil. Es sind um die 18’000, gleich viele wie um 1970. Das heisst aber auch, dass wir nicht analog zur Bevölkerung gewachsen sind. Da spielt auch die Auswanderung nach Israel eine Rolle. Aus meinem Jugendbund sind von 20 drei ausgewandert. Das sind nicht wenig.
Sie spüren die Säkularisierung aber weniger als andere Religionsgemeinschaften?
Es gibt zweifellos einen Bedeutungsverlust der Religion. Bei uns ist dieser weniger dramatisch, weil «Judentum» nicht einfach nur Religion bedeutet. Der völlig Areligiöse kann genauso Jude sein wie der Strenggläubige.
Welche Auswirkungen hat eine säkularisierte Gesellschaft auf das Ausleben jüdischer Traditionen?
Das Verständnis für religiöse Ausdrucksweisen geht zurück. Das spüren etwa Leute, die aufgrund der Kleidung auf der Strasse als Juden erkennbar sind. Man sollte als Gesellschaft doch damit umgehen können, wenn sich jemand wegen der Religion anders kleidet.
Immer wieder zur Debatte gestellt wird – angeblich wegen des Tierschutzes – die Legalität von Schächtfleisch. Macht Ihnen dies Sorgen?
Die Gründung des SIG ist auf eine Abstimmung von 1893 zurückzuführen, in der das Schächten in der Schweiz verboten wurde. Vordergründig ging es um den Tierschutz. Damals war dieser aber nur rudimentär ausgeprägt. Heute darf man in der Schweiz nicht schächten, aber entsprechendes Fleisch importieren. Einige bezeichnen dies als inkonsequent. Aber manchmal ist es besser, mit einer gewissen Inkonsequenz zu leben. Wir hätten grosse Schwierigkeiten, wenn man den Import verbieten würde.
Was definiert «jüdisches Leben» in einer immer säkulareren Welt?
Jeder Jude findet in der Schweiz etwas, das seinem Grad an Säkularisierung entspricht; von sehr religiösen, modern-orthodoxen bis hin zu liberalen Gemeinden.
Und was bedeutet Jüdischsein für Sie ganz persönlich?
Es ist etwas, das immer da ist. Jüdischsein ist für mich persönlich nicht in erster Linie religiös. Vielmehr ist es Kultur, etwa Klezmermusik. Es ist Tradition, Tausende Jahre Geschichte. Vor drei Wochen ist meine Mutter gestorben, sie wurde 97 Jahre alt. Mich hat beeindruckt, wie wir Angehörigen umsorgt worden sind. Die Gemeinschaft war da, war spürbar. Eine weitere Komponente meines Jüdischseins ist die Wohltätigkeit. Nehmen wir wieder meine Mutter: Noch als 90-Jährige engagierte sie sich im Vorstand des Pflegeheims, in dem sie später selbst wohnte.
Welches sind denn Ihre wichtigsten Ziele an der SIG-Spitze?
Da gibt es zwei Elemente: Ich will die Wirkung nach aussen weiter verstärken – diesbezüglich ist der SIG schon gut unterwegs. Mein Ziel ist es, die verschiedenen Facetten des Judentums aufzuzeigen. Gleichzeitig sind Themen wie Sicherheit, Antisemitismus oder die Erinnerungskultur weiterhin zentral.
Und das andere Element?
Die Arbeit nach innen. Namentlich kleinere Gemeinden sind teilweise in ihrer Existenz bedroht und haben Ressourcenprobleme. Diese möchte ich mehr unterstützten und die Zusammenarbeit fördern. Auf die kurze Sicht ist mir noch etwas anderes wichtig.
Bitte.
Der SIG wurde personell stark erneuert. Da entstehen neue Dynamiken. Als SIG-Präsident bin ich kein CEO, der einfach sagt: Vorwärts, Marsch! Ich will die Wünsche abholen, das Machbare analysieren und gemeinsam handeln.
Künftig werden Sie sich öfters zur Israelpolitik äussern müssen. Noch immer polarisiert kaum ein Konflikt so stark wie jener zwischen Israel und Palästina. Wie zufrieden sind Sie mit dem gegenwärtigen Kurs der Schweiz?
Die Schweiz hat, kurzgefasst, eine Israel-Politik aus zwei Punkten: Sie strebt eine friedliche Lösung an und unterstützt die Zwei-Staaten-Lösung. Sie anerkennt dabei die Grenzen von 1967, aber nicht die später eroberten Gebiete. Es ist kein Geheimnis, dass die Meinungen hier innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sehr unterschiedlich sind. Das Meinungsspektrum ist sehr breit, und es geht immer auch um den grössten gemeinsamen Nenner. Dass der jüdische Staat Israel für den SIG sehr wichtig ist, muss ich nicht betonen. Bei antisemitisch motivierter Kritik an Israel, oder wenn sein Existenzrecht in Frage gestellt wird, schreiten wir konsequent ein. Aber zur Tagespolitik äussert sich der SIG grundsätzlich nicht.
Kommen wir noch zur Schweizer Tagespolitik: Wie stehen Sie zur Konzernverantwortungsinitiative? Die Kirchen weibeln im Abstimmungskampf sehr aktiv für ein Ja.
Wir haben dieses Thema in der Geschäftsleitung noch nicht besprochen. Ich bitte um Verständnis, dass ich mich deshalb noch nicht äussern will. Bei zentralen Themen sollte ein Präsident nicht öffentlich vorpreschen, bevor die Geschäftsleitung entschieden hat.
(INTERVIEW von Sven Altermatt, Lucien Fluri – CH Media, AZ)
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