Festhallen, Bars, Nachtclubs, öffentliche Schwimmbäder und Fitness-Studios müssen bis auf weiteres schliessen. Fast in ganz Israel steigen die Corona-Zahlen – ausser in den Kibbuzim.
Nach einem deutlichen Anstieg von Corona-Neuinfektionen hat Israel am Montag die Beschränkungen zur Eindämmung des Virus verschärft. Das Kabinett um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu entschied nach Angaben seines Büros, dass Festhallen, Bars, Nachtclubs, öffentliche Schwimmbäder und Fitness-Studios bis auf weiteres schliessen müssen.
Der Strand, Religionsschulen und Restaurants sollten dagegen geöffnet bleiben. In Restaurants sollen jedoch neue Einschränkungen gelten: Nur bis zu 20 Gäste dürfen drinnen und bis zu 30 draußen sitzen. In Gebetshäusern dürfen sich nur bis zu 19 Menschen versammeln. In Bussen soll die Zahl der Passagiere auf bis zu 20 beschränkt werden. Die Maßnahmen müssen noch vom Parlament gebilligt werden.
Netanjahu hatte bereits am Sonntag von einer Notstandslage und einem »sehr starken Ausbruch« des Coronavirus gesprochen.
Netanjahu hatte am Sonntag von einer Notstandslage und einem »sehr starken Ausbruch« des Coronavirus gesprochen. Er sagte am Montag: »Die Pandemie breitet sich aus, das ist sonnenklar.« Es gebe auch immer mehr Schwerkranke. »Deswegen müssen wir sofortige Schritte unternehmen, um zu verhindern, dass wir in Zukunft viel radikalere Maßnahmen ergreifen müssen.«
Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus in Israel hatte zuletzt einen Höchstwert erreicht. Am Freitag überschritt die Zahl der Neuinfektionen binnen 24 Stunden erstmals die Marke von 1000. Zuletzt wurde insbesondere in strengreligiösen Wohnvierteln ein dramatischer Anstieg von Neuinfektionen verzeichnet.
Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus in Israel hatte zuletzt einen Höchstwert erreicht.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums ist der Erreger Sars-CoV-2 bisher bei 30.162 Menschen in Israel nachgewiesen worden; 332 Infizierte sind gestorben. Im Westjordanland gilt seit Freitag wegen eines ähnlichen Neuausbruchs ein fünftägiger Lockdown. (JNS /dpa)
Israels Corona-freie Inseln
(von Alexandra Rojkov)
Fast in ganz Israel steigen die Corona-Zahlen – ausser in den Kibbuzim. Dabei helfen das Erbe des Sozialismus und der beispiellose Zusammenhalt in den Kommunen.
Als Corona immer näher kam, beschlossen die Bewohner des Ortes Ginegar im Norden Israels, das Virus aufzuhalten. An einem Donnerstag im März stiegen die Bauern in ihre Traktoren und fuhren an die Eingänge von Ginegar. Dort parkten sie mitten auf der Strasse, sodass kein Fahrzeug mehr hindurch konnte. Nur eine Zufahrt blieb offen. Und dort durfte wochenlang kein Fremder hinein.
Die Methode war drastisch, aber erfolgreich. Während Israel einen Anstieg von Corona-Erkrankungen verzeichnet, hat Ginegar bis heute keinen einzigen bekannten Fall. Das liegt auch daran, dass der Ort besonders ist: Ginegar ist ein Kibbuz, also eine landwirtschaftlich geprägte Kommune, die ursprünglich sozialistisch organisiert war.
Mehr als 250 solche Enklaven gibt es in Israel noch. Lange galten sie als verstaubte, dröge Überreste eines Pioniertraums, der längst ausgeträumt ist. Doch in der Coronakrise erweisen sie sich als Bastionen gegen das Virus. Während die Covid-19-Fälle überall in Israel steigen, sind viele Kibbuzim noch immer virenfrei. Wie das geht, zeigt sich exemplarisch in Ginegar.
1922 gegründet, war der Ort zuerst eine Ansammlung von Zelten. „17 junge Juden hatten den Boden gekauft und betrieben Landwirtschaft darauf“, erzählt Noa Zahavi, deren Grosseltern unter den Gründern des Kibbuz waren und die heute wieder dort lebt.
Mit der Zeit wuchs der Ort auf mehrere Hundert Bewohner an, die alles teilten: Einnahmen, Land, Lebensmittel. Ein Konzept, das nicht funktionierte. Um die Jahrtausendwende war der Ort fast pleite und wurde privatisiert. Heute gehört das meiste Land seinen Bewohnern, viele arbeiten nicht mehr in Ginegar, sondern in den angrenzenden Städten.
Doch der Gemeinschaftsgeist lebte in Ginegar weiter – und hat dabei geholfen, den Ort vor dem Coronavirus zu schützen. „Das Kibbuz war jahrzehntelang autark gewesen“, sagt Zahavi, die Enkelin der Gründer. „Als das Coronavirus auftauchte, war unsere erste Reaktion: Wir können uns allein versorgen. Wir haben alles, was wir brauchen. Es war wie ein Reflex.“
Noch bevor Israel eine Ausgangssperre verhängte, schloss Ginegar seine Tore. Am einzigen noch offenen Eingang wurde ein Wachposten stationiert, der bei allen Bewohnern, die rein- oder rausfuhren, Fieber maß. „Wir haben uns extrem abgeschottet“, sagt Zahavi.
Gleichzeitig arbeiteten Freiwillige daran, die Versorgung im Ort sicherzustellen. Wegen seiner sozialistischen Vergangenheit hat das Kibbuz viele Komitees und Ausschüsse: einen für Soziales, einen für Katastrophenfälle, einen für Kultur. Sie alle engagierten sich, um die Coronakrise für die Bewohner von Ginegar etwas erträglicher zu machen. „Jeder hatte seine Aufgabe, seine Zuständigkeit“, sagt Gal Goldner, der so etwas wie der gewählte Bürgermeister von Ginegar ist. Im Alltag betreibt Goldner ein Start-up, in seiner Freizeit kümmert er sich um die Belange des Kibbuz.
Der Ort legte nicht nur Vorräte an, sondern erstellte auch eine Liste aller Einwohner, die vom Virus besonders betroffen sein könnten. Wer hat Vorerkrankungen? Wer ist alleinerziehend? Diese Menschen bekamen einen Telefonpaten zugewiesen, der sie regelmässig anrief und Hilfe anbot. „Sie sollten das Gefühl haben: Sie sind nicht allein, es kümmert sich jemand um sie“, sagt Goldner.
„Wir hatten einen Pakt: Wir passen aufeinander auf“
Noa Zahavi, Einwohnerin des Kibbuz Ginegar
Die Seniorinnen und Senioren im Ort bekamen ihr Essen nach Hause geliefert – niemand musste auf die Strasse gehen, um zu überleben. Die Kinder im Ort legten ihnen Zitronen und Blumen vor die Tür, verbunden mit einem Motivationsbrief: „Haltet durch“, das war und ist die Botschaft.
Und auch die anderen Kibbuz-Bewohner blieben in den ersten Corona-Wochen im Ort, obwohl viele ausserhalb arbeiten. „Wir hatten einen Pakt: Wir sind füreinander verantwortlich“, sagt Noa Zahavi, die auch den kommunalen Gemüsegarten betreut. „Wir passen aufeinander auf.“
Dass das nötig ist, zeigen auch jene Fälle, in denen das Virus es doch in die Kibbuzim schaffte. In Alumim, einem Ort in der Negev-Wüste, mussten im März mehr als 300 Bewohner in Quarantäne, nachdem ein Besucher positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Wie viele Kibbuzim ergriff der Ort danach strenge Massnahmen. Heute gibt es dort laut einem Sprecher keinen einzigen bestätigten Corona-Fall.
Die Nähe der Kibbuz-Bewohner zueinander macht sie besonders resilient – aber auch besonders verwundbar. „Ginegar ist fast wie eine grosse Familie“, sagt Ortsvorsteher Goldner. „Das bedeutet auch: Wenn einer das Virus hat, haben es bald alle.“
Noch ist das nicht passiert: Obwohl Ginegar seine Strassen inzwischen wieder geöffnet hat, gibt es noch immer keine offiziellen Covid-19-Fälle. Der Nachbarort Migdal HaEmek, kein Kibbuz, sondern eine Stadt, verzeichnet dagegen jeden Tag neue Infektionen.
„Wir tun alles, um das Virus nicht nach Ginegar zu lassen“, sagt Noa Zahavi. Auch Gal Goldner erzählt, dass er ausserhalb des Ortes eine Maske trage und Abstand halte, um sein Infektionsrisiko zu minimieren. Ganz abriegeln, das sagen beide, könne man den Ort nicht. „Ich fürchte, irgendwann wird es einen Corona-Fall geben“, sagt Zahavi. „Und dann trifft es uns alle.“
Kategorien:Gesellschaft
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