Weil viele Ultraorthodoxe die israelischen Corona-Regeln nicht einhielten, machten säkulare Juden sie für die Ausbreitung der Krankheit verantwortlich. Und auch in anderen Bereichen kriselt es zwischen den Strömungen.
Ein kleiner Junge mit Schläfenlocken beschimpft Polizisten als Nazis. Entstanden ist die Aufnahme im April – als die Behörden die Stadt Bnei Brak vor den Toren Tel Avivs abriegelten. Bnei Brak wird überwiegend von streng-religiösen Juden bewohnt und war damals, in der ersten Pandemie-Welle, ein sogenannter Corona-Hotspot.
Ultraorthodoxe fühlen sich diskriminiert
Viele ultraorthodoxe Juden nahmen die Bedrohung lange nicht ernst und befolgten die Anordnungen der Behörden nicht. Selbst der damalige Gesundheitsminister, ein ultraorthodoxer Politiker, verstiess gegen die Massnahmen und erkrankte selbst an Corona. Weil sie sich nicht an die Regeln hielten, wurden die streng religiösen von vielen säkularen jüdischen Israelis für die Ausbreitung der Pandemie mit verantwortlich gemacht.
Israel Eichler, Politiker der streng-religiösen Partei Vereinigtes Thora-Judentum, fühlte sich zu Unrecht verfolgt: „Wir werden gerade Zeugen einer beispiellosen Hetzkampagne gegen die ultraorthodoxe Öffentlichkeit, die angeblich zum Schutz vor dem Coronavirus, geführt wird.“ Eichler hält die Ausgangssperren für eine selektive Massnahme, speziell für den ultraorthodoxen Sektor: „Sie machen aus der ultraorthodoxen Bevölkerung einen Boxsack.“
Viele Streitpunkte zwischen den Strömungen
Ultraorthodoxe Familien haben im Durchschnitt sieben Kinder. Bei der Staatsgründung Israels 1948 machten sie noch ein Prozent der Bevölkerung aus, mittlerweile sind es 14. Spannungen zwischen säkularen und streng-religiösen Israelis gibt es häufig. Mal versuchen Ultraorthodoxe Ladenöffnungszeiten oder den öffentlichen Nahverkehr am jüdischen Ruhetag, dem Schabbat, einzuschränken, mal wird versucht bei Veranstaltungen oder in Bussen, die Geschlechtertrennung durchzusetzen, obwohl sie in Israel verboten ist.
Politiker aus dem streng- und dem national-religiösen Lager sprechen sich auch regelmässig für eine Staatsform nach religiösem Recht aus – einer Theokratie also.
Es ist vor allem der Streit über die Wehrpflicht, der das Land seit Jahren spaltet. Streng-Religiöse Juden, die sogenannten Haredim, übersetzt „die Gottesfürchtigen“, demonstrierten in Jerusalem gegen die Wehrpflicht für junge ultraorthodoxe Juden. Sie waren vom Dienst in der Armee lange ausgenommen. Der oberste Gerichtshof verlangte schliesslich eine Änderung, die die ultraorthodoxen Parteien in der Regierung aber bisher verhinderten.
„Wir können Euch einfach nicht mehr bezahlen!“
Die streng-religiösen Juden befürchten, dass junge Männer durch den Dienst an der Waffe die Bindung zu ihrem Glauben verlieren. „Langsam aber sicher, nach ein paar Monaten, sind die Schläfenlocken nicht mehr so wie vorher. Sie sind kürzer und die Kippa wird kleiner“, sagt ein Ultraorthodoxer aus Jerusalem. „Wer zur Armee geht, ist nach ein paar Monaten bereits säkular.“
Die Mehrheit der Israelis sieht es allerdings so, wie der liberale Oppositionspolitiker Yair Lapid: „Wir können nicht länger zigtausende von Thora-Studenten ernähren, die keinen Wehrdienst leisten und nicht auf dem Arbeitsmarkt sind. Ich bin nicht anti-religiös und meine Forderung ist es auch nicht. Wir können Euch einfach nicht mehr bezahlen und wir können dem Staat nicht allein dienen.“
Russische Juden gegen Privilegien für Ultraorthodoxe
Besonders die Bevölkerungsgruppe der russischen Einwanderer in Israel lehnt die Privilegien für die streng-religiösen Juden ab und stimmt deshalb für Politiker, die den Einfluss der Ultraorthodoxen einschränken wollen, erklärt die Soziologin Larissa Remennick: „Russische Juden arbeiten hart. Sie glauben daran, dass jeder für sich selbst sorgen und sich nicht auf den Staat verlassen sollte. Es fällt ihnen schwer zu akzeptieren, dass die streng-religiösen Politiker sagen, wir beten für Euch und deswegen überleben alle und deshalb ist Israel ein starker Staat.“
Die Spannungen zwischen streng-religiösen und säkularen Israelis werden im Alltag voraussichtlich nicht abnehmen und den innergesellschaftlichen Graben zwischen beiden Gruppen vertiefen. (Tim Aßmann,BR24)
Kategorien:Gesellschaft
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